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RPG allgemein: Wahrscheinlichkeiten im Rollenspiel (Blog) {DSA, D&D, Wahrscheinlichkeiten}
12.4.2011, 22:32
Dom
Angeregt durch eine Diskussion drüben im Teestübchen hier ein kleines Gedankenspiel.

Es gibt kaum etwas unintuitiveres als Wahrscheinlichkeiten. Beispiel gefällig?

1) Leute kommen ins Kino, alle 100 Plätze sind ausgebucht. Jeder geht zu dem auf seiner Karte vermerkten Platz. Ist der frei, setzt er sich auf seinen Platz. Ist der nicht frei, will er niemanden stören und setzt sich auf einen anderen, freien Platz. Der erste Kinobesucher kann nicht lesen und setzt sich auf irgend einen Platz. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der letzte, der rein kommt, auf seinem Platz sitzt?

Spoiler zu ""Lösung"": (anzeigen)

50 %. Das ist übrigens unabhängig von der Anzahl der Plätze, solange es mindestens 2 sind.
2) Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, das zwei Leute auf einem Fußballfeld (23 Personen) am gleichen Tag im Jahr Geburtstag haben?

Spoiler zu ""Lösung"": (anzeigen)

Etwa 50 %. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Spieler am selben Tag Geburtstag hat wie der Schiedsrichter beträgt übrigens nicht einmal 6 %.
3) Bei D&D3.x ist es so, dass der Angreifer mit „W20+Angriff“ würfelt und mindestens „10+Rüstungsklasse“ des Verteidigers erreichen muss. Gelingt der Angriff, verursacht der Spieler eine gewisse Menge Schaden, z.B. 1W6. Der Spieler kann nun eine Waffe bekommen, die entweder +2 auf Angriff macht oder den Schaden um 1 erhöht, d.h. W6+1 Schaden verursacht. Was ist besser?

Spoiler zu ""Lösung"": (anzeigen)

Es zählt der mittlere Schaden pro Runde, denn das ist es, was den Gegner „runterklopft“. Dabei kommt es drauf an, wie groß die Rüstungsklasse ist.
* Nehmen wir an, die Rüstungsklasse eines „normalen“ Gegners ist um 1 höher als der Angriff, d.h. der Angriff gelingt ab einer gewürfelten 11 (also 50 %). Ein W6 verursacht im Schnitt 3,5 Schaden, das macht pro Runde 1,75 Punkte Schaden.
* +2 auf Angriff bedeutet, die Wahrscheinlichkeit erhöht sich auf 60 %. Macht pro Runde 2,1 Schaden.
* +1 auf Schaden bedeutet, der Schaden erhöht sich auf 4,5 bei einem Treffer. Macht pro Runde 2,25 Schaden.

Häfig sind die Gegner aber schwerer zu treffen (gerade bei mächtigen Einzelgegnern), sagen wir ab einer 18 (also 15 % Trefferchance), also 0,525 Schaden/Runde. +2 auf Angriff: 0,875 Schaden/Runde. +1 auf Schaden: 0,675 Schaden/Runde.

Es lohnt sich also, je nach Gegner unterschiedliche Waffen zu führen.
Letztendlich müssen im Spiel die Zahlen aber irgendwoher kommen, und in praktisch jedem Spiel bedeuten die Zahlen irgendwelche Würfe und Wahrscheinlichkeiten, die sich nach sich ziehen (ja, Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel).
Ich sehe zwei Möglichkeiten, mit den Zahlen umzugehen und sie aus dem Hut zu ziehen:
1. Die Spieler sehen Bedeutungen in den Zahlen und wählen sie nach diesen Bedeutungen aus. Sie wissen nicht genau, wie sich die Zahlen im Spiel auswirken, erkennen höchstens Tendenzen. ("Hoch ist gut")
2. Die Spieler werten die Wahrscheinlichkeiten aus und wählen die Zahlen, die ihnen am Besten in den Kram passen: Spieler optimieren ihre Spielfigur, der Spielleiter sucht optimal passende Herausforderungen.

Wenn man also nicht „Stochastik – das Rollenspiel“ spielen möchte, braucht man ein Spiel, bei dem es bei 2. nicht zu wilden Rechnereien kommt. Oder … Betrachten wir dazu die beiden Spiele, mit denen ich mich recht gut auskenne: D&D und DSA.

a) D&D. Die Regeln sind sehr einfach (W20+Wert >= Zielwert). Jeder kapiert sofort, was ein +1 auf einen Wert bedeutet (Chance +5 Prozentpunkte). Ein +1 auf ein Attribut ist toller als ein +1 auf eine Fertigkeit, weil es sich auf viele Werte auswirkt. Jeder kann schnell überblicken, welches Attribut für ihn wie viel bedeutet. Die größte Schwierigkeit ist die Frage „Schaden“ vs. „Trefferchance“ – die wird aber durch die Regeln in den Standardfällen nicht zugelassen, denn ein +1 auf Schaden geht meist mit einem +1 auf Treffen einher (d.h. man hat entweder nur +1 auf Treffen, oder +1 auf Treffen und Schaden). Für den SL gibt es recht brauchbare Regeln, anhand von Werten die passenden Herausforderungen zu ermitteln.
Die Bedeutung der Werte steht an zweiter Stelle. Das heißt nicht, dass ein Spieler keine Vorstellung von den Werten hätte, aber es ist mehr eine Folge aus der spieltechnischen Bedeutung.

b) DSA. Die Regeln sind kompliziert: Im Kampf modifiziert Rüstung den Schaden, die Verteidigung kommt noch oben drauf. Jede Probe basiert fast immer auf drei oder mehr Eigenschaftswerten. Kaum einer blickt durch, wie sich die Wahrscheinlichkeiten wirklich ändern, wenn man einen Wert erhöht. Die wenigsten Spieler ermitteln ihre Charakterwerte nach dem, was es bringt, sondern zumeist nach dem, was es bedeutet. Spieler wählen Töpfern als Fertigkeit, weil ihr Charakter töpfern können soll (auch wenn sie es im Spiel nie verwenden werden).
Die Wahrscheinlichkeiten und spieltechnishcen Auswirkungen der Werte stehen bei DSA an zweiter Stelle. Das bedeutet jetzt nicht, dass sie nicht interessieren. Aber sie sind doch zumeist eher eine Folge der Vorstellung und nachträgliche Optimierung als Triebfeder.
Gerade auch als SL hat man Probleme, vernünftige Herausforderungen zu stellen. Selbst wenn man viel Zeit hat und investiert – die Spielfiguren unterscheiden sich sehr stark voneinander. Obwohl also DSA so komplizierte Regeln hat, geht kaum einer hin und rechnet aus, ob es jetzt besser ist, seine Punkte in Intuition oder in Magie zu versenken. Weil das quasi unmöglich ist.

Dumm nur, wenn die Regeln eines Rollenspiels irgendwo dazwischen fallen: Sie sind weder einfach noch kompliziert genug. Durch Rechnereien bekommt man vieles hin, manches vielleicht nicht. Auf jeden Fall hat derjenige, der viel rechnet, bessere Chancen als einer, der dies nicht tut. Zudem ist dann nicht klar, was die Spieler als Grundlage ihrer Werteauswahl wählen sollen: bei den Wahrscheinlichkeiten (=den Auswirkungen) oder in der Vorstellung?

Es gibt also zwei Möglichkeiten, Rechenorgien gezielt zu verhindern.
(i) Erstens kann man es einfach genug machen, so dass jeder die Auswirkungen sofort erfassen kann. Dann spielen die Kenntnis der genauen Wahrscheinlichkeiten keine wirkliche Rolle mehr für alle Spieler, auf für den SL. Im Idealfall gibts einfach zu begreifende Richtlinien, um Herausforderungen an die Spieler anzupassen und spannende Spielabende zu gestalten.
(ii) Zweitens macht man es kompliziert genug, so dass niemand eine Chance hat, die Auswirkungen zu erfassen. In diesem Fall kann man die Zahlenregeln aber eigentlich ganz aufgeben (z.B. Engel) oder zumindest durch ein ganz simples System ersetzen (SEUCOR, es gibt nichts Einfacherers). Denn Zahlen sind ja eignetlich nur ein schlechtes Hilfsmittel, um Eigenschaften und Fähigkeiten zu beschreiben.

In jedem Fall bin ich aber der Meinung, dass kein Spieler über die genauen Wahrscheinlichkeiten Bescheid wissen müssen sollte.
13.4.2011, 09:18
Der Mönch
Im Ernst Dom, immer wenn du mir Mathe erklärst, verstehe ich was! Sehr gut!

Ansonsten kann ich aus DSA-Spieler-Sicht einbringen, dass ich das mit den Werten und Wahrscheinlichkeiten bei DSA nie durchschaut habe und immer sehr intuitiv meine AP und Steigerungen verteilt habe. Was aber dazu geführt hat, dass ich den einen oder anderen Charakter hatte, der theoretisch „hochstufig“ und heldenhaft war, aber immer nix gebacken bekommen hat. Dein Beitrag zeigt mir, dass es vielleicht nicht nur mit Würfelpech zu tun hatte.

Charmant fand ich bei meinem Rundgang durch Rollenspiele bisher immer die Systeme, die auf Zahlen verzichten oder versuchen, sie sehr einfach zu halten. Da ging es mir tatsächlich so, wie du beschrieben hast: ich habe intuitiv begriffen, was besser ist (bzw., wenn auf Zahlen verzichtet wurde, gings eh um andere Dinge).

Fußnote: Ich bin gespannt auf deinen ersten Entwurf von „Stochastik — Das Rollenspiel“ :D
13.4.2011, 18:41
Dom
Was D&D (vor allem 3.5, aber auch andere Versionen) natürlich trotzdem saukompliziert macht, ist die Masse an Optionen, die man hat. Da gibt's natürlich auch bessere und schlechtere Optionen. Die muss man aber nur selten ausrechnen sondern wissen. An das Wissen gelangt man durch Diskussion, Überlegung und vor allem Studium der Möglichkeiten. Am besten, man plant in Stufe 1 schon, wohin sich der Char in Stufe >15 entwickeln soll und arbeitet von Anfang an konsequent darauf hin. Vor allem, wenn die Runde mit allen möglichen zusätzlichen Prestigeklassen spielt.
14.4.2011, 00:36
1of3
Hi Dom,
wie beweist man die 50% im ersten Beispiel?
14.4.2011, 19:32
Dom
Induktion ist am einfachsten, geht aber auch direkt, indem man den Induktionsschluss konsequent über Summen auflöst, statt zu induzieren. Das gibt dann längliche Ausdrücke für Fall 3.

Induktionsanfang: Zwei Plätze. Der erste setzt sich auf irgendeinen Platz, d.h. mit Wkt. 0,5 auf seinen eigenen. Der zweite dementsprechend.

Induktionsschluss: n Plätze, n>=3; wir wissen dass die Annahme für alle Anzahlen k<n gilt.
Wir unterteilen das in drei Fälle und wenden den Satz von der totalen Wahrscheinlichkeit an.
Fall 1: Wenn sich der erste auf seinen eigenen Platz setzt (Wkt. 1/n) setzt sich der letzte mit Sicherheit auf seinen Platz. Macht also einen Anteil von 1/n * 1 = 1/n.
Fall 2: Wenn sich der erste auf den Platz des letzten setzt (Wkt. 1/n), setzt sich der letzte auf den Platz des ersten (und somit nicht auf seinen eigenen Platz). Macht also einen Anteil von 1/n * 0 = 0.
Fall 3: Der erste setzt sich auf irgendeinen Platz. Dann wissen wir nach Induktionsannahme, dass sich der letzte mit Wahrscheinlichkeit 50% auf seinen Platz setzt. Macht also einen Anteil von (n-2)/n * 1/2 = (n-2)/(2n).

Zählen wir das zusammen: 1/n + 0 + (n-2)/2n = (2+0+n-2)/2n = 1/2.
zuletzt geändert: 14.4.2011, 19:40
14.4.2011, 20:55
rillenmanni
Whoohoo! Ich liebe es! =)
Dom, ich fand das Thema doof bis schwergradig beunruhigend. Aber ich möchte nun schon seit einiger Zeit endlich der Stochastik-Held werden. (Man kann damit im Hobby so viel anfangen. =)) Wie kann ich das denn werden? Gibt es irgendwelche kühle Lektüre für Leute, die klein anfangen? Oder muss ich mir die 80er Telekolleg-Folgen vom Schwarzmarkt besorgen?

PS: Du darfst aber dennoch gern auf Lebenszeit mein Hofmathematicus bleiben. =)
14.4.2011, 21:44
Thimorn
Typisch, kaum gibt man einem Deutschen ein Rollenspiel, macht er eine Buchhaltung daraus ;)
15.4.2011, 10:40
Der Mönch
Also ich finde Mathe weiterhin faszinierend und wenig buchhalterisch! :D Was nicht heißen soll das ich einen Plan habe. 80er Jahre Telekolleg? Klingt nach einem guten Anfang. Sollte auf jedenfall im neuen Rollenspiel implementiert werden ;)
16.4.2011, 14:29
Dom
@Thimorn: Was meinst du jetzt genau? Die Überlegung, wie man Rechenorgien verhindern kann?
17.4.2011, 19:31
Thimorn
@ Dom

Wesentlich war das „;)“ an meinem Beitrag.

Ansonsten finde ich die Überlegung ganz gut. Davon abgesehen, muss ich ein untypischer DSA-Spieler sein, da ich meine Werte durchaus nach Wahrscheinlichkeiten steigere. Das Problem ist nur, dass die Wahrscheinlichkeiten im Talenteinsatz zu niedrig sind insb. bei Mali durch Aufschläge.

Übrigens ist das Ziel jeder Buchhaltung Redundanzen zu vermeiden um schnell und ohne viel Aufwand arbeiten zu können. Also genau das, was du ja auch möchtest.

@Mönch und rillenmanni

Hier gibt es eine online-Version für diverse mathematische Vorgänge

[/ur=http://www.matheprisma.uni-wuppertal.de/]Matheprisma[/url]

Für Statistik und damit auch zu statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnung kann ich folgende drei Bücher empfehlen:
So lügt man mit Statistik
Wie lügt man mit Statistik
Lügen mit Zahlen — Wie wir mit Statistiken manipuliert werden

Schön ist, es werden viele Statistiken, die im Alltag verwendet werden bzw. mit denen man konfrontiert wird, anschaulich zerlegt und auf die jeweiligen Fehler hingewiesen.

Ansonsten noch das hier:
Wahrscheinlichkeitsrechnung für Dummies
17.4.2011, 21:22
rillenmanni
Oh, vielen Dank, Thimorn! =)

Das entwertet allerdings nicht den nun von Dom gestarteten didaktischen Ritt. Die Chance, hier eine aufs Rollenspiel bezogene Artikelserie über Wahrscheinlichkeitsberechnung zu erleben, lasse ich mir nicht nehmen. =)
18.4.2011, 07:14
Dom
@Wahrscheinlichkeitsrechnung für Dummies: Taugt das was?

Ansonsten: Wikibooks
18.4.2011, 10:50
Thimorn
Das Buch ist natürlich für jemanden, der sich auskennt, nicht so der Bringer. Allerdings habe ich von anderen gehört, dass es eine didaktisch ganz gute Einführung sein soll und sie es damit verstanden haben.
18.4.2011, 22:09
Der Mönch
Danke für die Tipps!
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